Hörfunk auf Abwegen?

Hörfunk auf Abwegen? Mario Gongolsky

Die Revolution der medialen Wirklichkeit hat schon begonnen. Wer über Medien spricht, kommt am Internet nicht vorbei. Vielleicht überholt das Internet sogar den Aufhänger für dieses Buch. Wir trennen hier feinsäuberlich Fernsehen und Radio, nationale Verbreitung und internationale Verbreitung, während das Internet sich anschickt, genau diese Grenzlinien zur Unkenntlichkeit zu verwischen.

Technik

Zum Radiohören benötigt man derzeit noch einen Computer, in der Regel einen gewöhnlichen Personalcomputer. Hiermit ist schon die erste Zugangshürde aufgebaut. Bunter Piktogramme und Plug-and-Play-Systemen (= einstecken und spielen) zum Trotz bedarf der Umgang mit dem Computer einer ganzen Menge Vorkenntnisse. Dem Anfangserfolg des Online-Rundfunks ist diese erste Sperre wenig abträglich. Wer junge Zielgruppen bis 35 Jahre bedienen möchte, kommt als Veranstalter voll auf seine Kosten. Schon heute sind 75 % dieser Zielgruppe im Internet aktiv, wobei im Bereich privater Internetzugänge immer noch enorme Zuwachsraten zu verzeichnen sind.

Hinzu kommt, dass immer mehr Applikationen auf den Markt kommen, die den Abruf von Internetdiensten genauso einfach machen wie das Telefonieren.

Die Technik der Audio- und Videoübertragung hat gewaltige Entwicklungssprünge gemacht. Schon heute können mit einem einfachen ISDN-Telefonanschluss Audiodaten abgerufen werden, die in ihrer Klangqualität weitaus besser sind als Rundfunkdienste auf Mittelwelle. In den kommenden zwei bis vier Jahren kommen die Internetdaten aus dem TV-Kabelnetz, der Stromleitung oder via Satellit in einer Bandbreite, die CD-Klangqualität ermöglichen wird. Bei den derzeitig anfallenden Gebühren für die heute erforderliche Telefonleitung wird es gewiss nicht bleiben. Zum Pauschalpreis bekommen wir „Internet - All you can eat”. Einmal gebucht, ist es dann unerheblich, ob der PC eine Verbindung ins Internet hält oder nicht.

Solange das Internet in Konkurrenz mit vorhandenen oder künftigen Hörfunksystemen steht, muss der Onlinerundfunk mit Interaktivität ködern. Das Internet ist nämlich das bislang einzige System, das den Hörer zum eigenen Programmgestalter machen kann: wann der Hörer will, was der Hörer will. Im Gegensatz zu anderen Systemen hat der Hörer von Internetradio einen ständigen Rückkanal zum Sender und kann sein eigenes Programm zusammenstellen. Alle anderen Systeme sind als „Einwegdienst” ausgelegt. Also wird gehört, was gerade gespielt wird. Über die Nische „Interaktivität” hat der Onlinerundfunk ein Alleinstellungsmerkmal.

Veränderte Hörgewohnheiten

Heute hat das Radio den Status eines Sekundärmediums. Es wird manchmal ganz unbewusst eingesetzt. Der Griff zum Autoradio, kaum mehr als eine liebgewordene Angewohnheit. In der Küche oder im Bad, ein passiver Konsum von Musik und Nachrichten.

Das Internet bietet nun die Möglichkeit, die Hörer zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Programm zu animieren und erfordert dadurch andere Hörgewohnheiten. Wieviel eigene Aktivität der Onlineradiohörer aufzubringen bereit ist, wird die Zukunft zeigen müssen. Interaktive und passive Radioangebote werden sicher eine Koexistenz führen. Manchmal möchte man schliesslich nur das Radio einschalten und Musik hören.

Gestritten wird in der Fachwelt darüber, wann Interaktivität eigentlich erreicht ist. Die Zusammenstellung eines persönlichen Musikprofils ist eine isolierte Anweisung an den Sender, die passenden Musiktitel zusammenzustellen. Ist es aber interaktiv, also eine stete Handlung zwischen Hörer und Sender? Vielleicht kommt die einmalige Einrichtung eines Profils aber dem Maß an Beteiligungsbegeisterung des Hörers schon recht nahe.

Neu auf dem Markt ist eine Software, bei der man nach bestimmten Musiktiteln suchen kann. Die Software fragt mit der Titelsuche nahezu alle Radiostreams ab und zeichnet eine passende Ausstrahlung automatisch auf der PC-Festplatte auf. Hat das noch etwas mit dem Begriff des Radiohörens zu tun? Das Internet mit seinen technischen Möglichkeiten stellt Begriffsbedeutungen auf den Kopf und züchtet einen neuen Hörertypus.

Konvergenz der Systeme

Schon heute verzichten viele Onlineradios nicht auf die Möglichkeit, neben dem Ton auch ein Bild mitzuliefern. Mag die Videoqualität heute noch keine höheren Ansprüche befriedigen, so ist die Trennline zwischen Radio und Fernsehen schon nicht mehr klar zu erkennen. Ein moderiertes Studiogespräch ist nichts anderes als ein Fernsehtalk. Die Nachrichten des koreanischen Rundfunks in englischer Sprache präsentieren sich mit kleinen Filmberichten nicht anders als unsere Tagesthemen.
Wenn die erforderlichen Datenbandbreiten Realität geworden sind und diese technische Infrastruktur in den Haushalten preisgünstig zur Verfügung steht, wird „Internetradiotv” zu einer völligen Selbstverständlichkeit.

Konvergenzen gibt es auch bei den Verbreitungskanälen. Ein großer Teil der Netzausstrahlungen sind nur eine Verdoppelung der bereits per Funk ausgestrahlten Programme. Ihr Mehrwert ist allenfalls in der geografischen Reichweitenerhöhung und der Archivierung von Sendungen zu finden. Internet-Only-Sender gehen den umgekehrten Weg und verbreiten ihre Sendungen via Satellit, mit dem Ziel die technische Reichweite und damit die Hörerzahl zu erhöhen.

Eine weitere Konvergenz lässt sich aus dem Treiben des Piratensenders Radio90 ablesen: Studenten der Universität von Banff wollten endlich einen guten Radiosender haben, der den neuesten „Drum ´n Bass” aus London spielt. Natürlich findet man im Internet Programme, die den gewünschten Clubsound liefern, aber die kann man nur hören, wenn man am Computer sitzt. Kurzerhand kaperten die Studenten eine UKW-Frequenz, an denen es wenigstens in den kanadischen Rocky-Mountains nicht mangelt, um ihre Form eines „World-Service” zu installieren. Unter dem Namen „Radio 90” verbreitet der Sender Internet-Musik aus der ganzen Welt und versorgt damit das schöne Bow-Valley in Kanada. Eine „Best-of-Programmzusammenstellung”, bei dem die Hörer per Webformular den Sendeplan modifizieren können. Binnen kürzester Zeit hatten alle Jugendlichen das Radio auf ihren neuen Sender abgestimmt, in der Dorfbar wird es ebenso gehört und auch aus den Taxis dröhnt das Radio90-Programm. Um den Kreislauf perfekt zu machen, ist das Programm heute natürlich auch im Internet unter http://www.radio90.fm zu empfangen.

Das Ende der Flüchtigkeit

Das Internet bietet noch einen weiteren, ganz wesentlichen Vorteil gegenüber anderen Hörfunksystemen. Es hebt die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes auf. Wenn Sie den Inhalt eines Zeitungsartikels weitererzählen, besteht für den Informationsempfänger stets die Möglichkeit in der Zeitung selbst nachzulesen. Bei einem Radiobericht bleibt es in der Regel eine mündliche Überlieferung. Das Internet bietet den Rundfunkmachern eine perfekte Möglichkeit zur Archivierung gesendeter Beiträge. Verbunden mit dem Angebot, verpasste Radiosendungen später abzurufen (Audio-On-Demand), werden Radiobeiträge jederzeit verfügbar.

Das digitale Funkhaus

Die Zeiten, in denen Radiobeiträge mit Tonbandmaterial zusammengeschnitten werden, gehören der Vergangenheit an. Bei der vielerorts bereits vollzogenen Digitalisierung der Produktionsabläufe wird das Ziel verfolgt, auf einer einzigen Arbeitsplattform arbeiten zu können. Moderne Produktionssysteme erzeugen dabei Datenströme, die mit minimalem Aufwand dem Internet zur Verfügung gestellt werden können. Ganz unabhängig von der Frage, ob das Internet selbst zum Rundfunkmassenmedium wird oder nicht, werden alle Rundfunkveranstalter die Möglichkeiten zur Archivierung und zum späteren Abruf einzelner Sendungen über das Internet nutzen. Mit kleinem technischen Aufwand erhält das Programm durch jederzeitige Abrufbarkeit einen zusätzlichen Servicecharakter, also einen fassbaren Mehrwert für alle Hörer mit Internetanschluss.

So funktioniert das Internetradio

Man benötigt einen PC und ein Internetkonto, welches der PC über die Telefonleitung anrufen kann. Der PC ist hierzu mit einem Modem, einer ISDN-Karte oder sogar mit einem DSL-Modem ausgerüstet. Zur Tonausgabe ist ferner eine „Soundkarte” mit passenden Lautsprechern zu installieren. Für den Empfang der Internetradioprogramme wird zudem Software benötigt, die das komprimierte Datenformat der Tondateien umwandelt und der Soundkarte zur Wiedergabe anbieten kann.

Zwei Softwareprogramme beherrschen dabei den Markt: Der „Realplayer” und der „Mediaplayer” von Microsoft. Letzterer wird bereits mit den modernen Windows-Betriebssystemen zusammen ausgeliefert.

Bei den Radioangeboten im Internet unterscheidet man „Radio-On-Demand”, Programme auf Abruf, sowie „Livestreams”, Sendungen, die live im Internet ausgestrahlt werden.

Auf der Senderseite wird das Tonsignal in die Codersoftware eingespielt und in Internetdaten umgewandelt. Diese Daten werden durch einen Internetserver, also einem Datenverteiler des Internets, auf Anfrage eines Hörers versendet.
Und so funktioniert das Internetradio (noch) nicht

Das ungezügelte Wachstum des Internet bringt einen ganzen Strauß von Problemen mit sich. Immer mehr abrufbare Inhalte und immer mehr Benutzer erfordern eine immer höhere Netzkapazität. Zudem sind Audio- und Videoinhalte, trotz der Datenkompressionsmöglichkeiten, die Streamingtechnik heute bietet, ziemlich datenintensiv. Das heißt, die Internetverbindungen müssen stabil sein und einen hohen Nettodatendurchsatz gewähren, wenn das Hören von Netzradios ein Genuss sein soll.

Die Streaming-Technik reflektiert die Probleme beim Datendurchsatz nur sehr unzureichend, denn jeder Hörer, der sich in ein Radioprogramm einschaltet, erhält einen eigens für ihn generierten Datenstrom. Die hierdurch verbrauchten Netzbandbreiten sind immens.

In der Folge kann bei Internetradio heute noch nicht von einem Massenmedium gesprochen werden. Trotz anderslautender Rekordversuche von Microsoft liegt die praktikable Größenordnung eines Internetradio-Programms kaum jenseits von 20.000 Hörern.

Um diese zeitgleich bedienbare Hörerschaft nennenswert zu vergrößern, müssten zahlreiche technische Voraussetzungen flächendeckend geschaffen werden. Dazu gehört eine besondere Protokollunterstützung, die Echtzeit-Audiodaten einen Transportvorrang vor anderen Datendiensten des Netzes einräumt. Zudem träumen die Techniker von einem Wechsel zum „Multicasting”. Im Gegensatz zum heute gebräuchlichen Unicast-Verfahren muss beim Multicasting nicht mehr jede Höreranfrage einzeln beantwortet werden. Ein Audiodatenstrom wird weiter vervielfacht und über das Netz verbreitet. Die Höreranfrage landet erst gar nicht mehr beim aussendenen Rechner, sondern wird an beliebiger Stelle des Netzes einfach angezapft.

Eine durchgängige Architektur des Netzes für dieses Verfahren ist ganz klar noch Zukunftsmusik. Es ist kaum zu vermuten, dass ein Durchbruch mit der Multicast-Technik in den kommenden fünf Jahren Realität wird.

Andere Zielgruppen, andere Zugangsmöglichkeiten

Mit diesen Einschränkungen ist das Webradio eine Randerscheinung. Sinnvolle Anwendungen, wie das Hören von Sendungen aus einem Programmarchiv, werden sich bestimmt durchsetzen. Das Webradio mit dem Internet als einzigen Verbreitungskanal wird sich dauerhaft nur für Special-Interest-Programme anbieten.

Passende Programme sind in Deutschland auch schon auf Sendung. Musikrichtungen, die nicht mehr dem Massengeschmack entsprechen und sich auf den umkämpften Radio-Massenmärkten nicht platzieren lassen, bekommen mit dem Internet ein neues Refugium. Zum Beispiel ein Bluesradio, mit qualifizierter Moderation und Online-CD-Shop, dürfte in dieser Nische ein treues Publikum finden können und vielleicht sogar eine wirtschaftliche Überlebenschance haben.

Es zeichnet sich beim derzeitigen Stand der Technik ab, dass die Radioübertragung per Internet ein Medium für kleine oder geschlossene Nutzergruppen sein kann. Einkaufsradios von Supermarktketten, Firmenradios in Großbetrieben als Medium der internen Firmenkommunikation, Schulungs- und Fortbildungsanbieter, die nur für ihre Studenten senden. All dies sind schon heute sinnvolle und wohl auch geschäftsfähige Anwendungen.

Sicher müssen auch Alternativen zum Computer als Zugangsgerät geschaffen werden. Nicht jeder möchte einen Computer zu Hause verwenden. Eine Feststellung, die für alle Internetdienste seine Gültigkeit hat. Die Dienstleistungen müssen mobil, flexibel und ohne PC-Kenntnisse zur Verfügung stehen. Hierfür zeichnen sich passende technische Möglichkeiten schon heute ab, die das Internet von morgen mitbestimmen werden.

Die Entwicklung wird man noch beobachten müssen. Vor allem die Frage, aus welchen Geldquellen sich Internetradios finanzieren können. Aus Werbeeinnahmen funktioniert das bisher nämlich nicht.

Geld gesucht

Die großen Internet-Only-Sender suchen Geldquellen. Da werden Internetradioangebote für Webportale produziert (wie für Web.de oder Yahoo-Deutschland), Messeradios ausgerichtet, wie auf der CeBit und weitere Messen werden sicher bald folgen. In der Zwischenzeit suchen die großen deutschen Vollprogramme im Internet, wie Daswebradio.de, ihr Heil auf dem Satelliten. Nur so können Hörerzahlen erreicht werden, die eine Werbevermarktung lohnend erscheinen lassen.

Internetradio weltweit

Ein Webradioprogramm kann überall in der Welt empfangen werden, wo ein Telefonanschluss zur Verfügung steht, um sich ins Internet einzuwählen. So eignet sich das neue Medium natürlich auch für weltweit aussendende Auslandsdienste, die heute mehrheitlich auf Kurzwelle und via Satellit aktiv sind. Genutzt werden diese Möglichkeiten vor allem für die Abrufbarkeit von Radiosendungen aus dem Programmarchiv.

Mit der schwindenden Akzeptanz für den Rundfunk auf Kurzwelle haben einige Auslandsdienste das Internet für ihre Aufgaben entdeckt. Im Jahr 2001 stellte der Schweizer Rundfunk International seine Aktivitäten auf Kurzwelle ein und versucht nun ganz auf das Internet zu setzen.
Ob sich dieses Vorhaben bewähren kann, ist umstritten. Wer seine Landsleute in aller Welt sicher mit Informationen versorgen will, kann auf die Kurzwelle kaum verzichten. Unabhängig von der örtlichen Telekommunikationsinfrastruktur funktioniert der Kurzwellenrundfunk, selbst bei Stromausfall und Netzmanipulation, mit einem einfachen batteriebetriebenen Kurzwellenradio.

Fraglich zudem der Ansatz in Ländern der Dritten Welt, nur noch eine wohlhabende und gebildete Schicht mit Radioprogrammen anzusprechen; eine Tendenz, die bei der Wahl der Verbreitungswege immer häufiger zu beobachten ist. In zahlreichen Zielgebieten des Auslandsrundfunks steht das Internet jedenfalls nur einer privilegierten Schicht zur Verfügung. Die Schweiz kann es sich möglicherweise leisten, weil sie im Ausland keine politischen Einflusssphären zu verteidigen hat. Für Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, die Niederlande oder die USA kann das Internetradio nur eine willkommene Ergänzung darstellen. Gerade einmal 5 % der Weltbevölkerung kann auf das Internet zugreifen. Um sich international Gehör zu verschaffen und seiner Stimme Gewicht zu verleihen, ist dieser Wert noch viel zu gering. All die schillernden Wachstumszahlen über die Internetnutzung hierzulande suggerien eine mediale Schlagkraft, über die das Internet global betrachtet in Wahrheit überhaupt nicht verfügt.

Wir mussten lernen, dass in diktatorisch geführten Staaten das Internet ein ungeeignetes Mittel zur Informationsversorgung darstellt. In zahlreichen fundamental-islamistischen Ländern ist das Internet praktisch nicht existent. Selbst in halboffenen Gesellschaften bleibt das Netz angreifbar. Die Architektur des Internet ist in seinem Ursprung sehr wohl auf eine militärische Nutzung optimiert worden, was das Netz recht unanfällig gegen stellenweise Leitungsausfälle macht und auch die Ortung eines Ursprungsrechners, von dem aus Inhalte erstellt wurden, erschwert. In der Folge wurde das Internet in Serbien zum medialen Schlupfloch gegen Zwangsmaßnahmen des Milosevic-Regimes. Doch lange währte der Triumph des Internet gegen staatliche Zensur und Unterdrückung nicht. Am Wahltag wurden alle Internetseiten der Opposition manipuliert. Das Regime übte erfolgreich Druck auf den Verwalter der nationalen Internetadressen aus. Alle Landesadressen im Internet müssen von dort aus auf den richtigen Rechner verweisen. Nach der Manipulation des „Domain-Name-Server” landete man auf Pornoseiten statt auf Wahlergebnissen und die Webcams aus Belgrad zeigten leere Plätze statt Massenproteste. Das Internet ist also sehr wohl verletzbar, auch wenn man nicht im Handstreich das gesamte Netz manipulieren kann. Für den Auslandsrundfunk bedeutet die bloße Möglichkeit zur Einflussnahme natürlich schon eine Gefahr.

Größenordnungen eines neuen Marktes

Mitte 2001 zählte ich 214 deutschsprachige Internetradio-Angebote. Weltweit sind nach Erhebungen von BRS-Media, einer recht zuverlässigen Quelle in Fragen Webradio, etwas über 5.000 Sender im Internet empfangbar. Dabei ist die explosionsartige Entwicklung wirklich bemerkenswert. Vor fünf Jahren registrierte BRS gerade einmal 56 Stationen, die ihr Programm in Internet verbreiteten. Im April 2000 waren es schon 3.537 Stationen und nur zwölf Monate später bereits 5.038. Diese Steigerungen sind sogar um Geschäftsaufgaben und Sendeunterbrechungen wegen rechtlicher Unsicherheiten bereinigt. Damit ist das Radio von allen Anwendungen, bei denen gestreamte Internetinhalte zum Einsatz kommen können, immer noch das wachstumstärkste Anwendungssegment.

Rechtliche Einordung noch ungeklärt

Ist Internetradio Rundfunk im herkömmlichen Sinne? Die Experten bewerten das Radiotreiben im Netz mit argwöhnischer Zurückhaltung. Mit 20.000 erreichbaren Hörern fehlt dem Netzradio die meinungsbildende Kraft. Eine Lizenz zum Betreiben eines Internetradios benötigt man demnach noch nicht. Ausstrahlungsgebühren für Musikstücke hingegen schon. Hier wird derzeit ein kleiner Pauschalbetrag an die GEMA abgeführt, der den Künstlern zu Gute kommen soll. Um tüchtiger abzukassieren fehlen verbindliche, zuverlässige Messmethoden für die tatsächlichen Hörerzahlen. Das kann sich aber schnell ändern. Die Frage, ob ein PC mit Soundkarte ein Rundfunkgerät darstellt, wurde ebenfalls lange diskutiert. Die Entscheidung ist nun gefallen. Eine Pauschalabgabe für den Computer kommt.

Zahlreiche Fragen sind also derzeit noch unbeantwortet. Hoffentlich lässt sich das Internetradio als Biotop für Radioexperimente konservieren. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sein eigenes Radioprogramm auszusenden.

Das Internet ist und bleibt ein schutzbedürftiger Raum der Meinungsfreiheit in Wort und Schrift des Digitalzeitalters.

Prognose

Bei aller Begeisterung muss man doch einmal festhalten, dass Internetradio, wenn man darunter die Nutzung des Internets als Übertragungsmedium für Radioprogramme, so wie wir sie heute kennen und nutzen, versteht, nach dem derzeitigen Stand der Technik und Vermarktbarkeit keine wirkliche Chance hat, mehr zu sein, als eine Ergänzung bestehender Hörfunkangebote.

Ein erheblicher Teil der Bevölkerung hat immer noch keinen Internetanschluss. Selbst wenn jeder einen Internetanschluss nutzen könnte, stellt sich immer noch die Frage nach der technischen Reichweite, also wieviel Hörer tatsächlich zeitgleich eine Livesendung verfolgen können. Für den Hörer bedeutet die Kapazitätsgrenze Abstriche in der Programmverfügbarkeit oder Übertragungs- qualität.

Nur die noch zu beobachtenden Einschränkungen bei der Klangqualität, der regulären Datengeschwindigkeit im Netz und die Kosten für die Internetnutzung erscheinen kurzfristig, innerhalb von drei Jahren, technisch lösbar.

Wenn man den Radiobegriff deutlich erweitert und darunter personalisierte Musik- und Informationsangebote, eine interaktive Auseinandersetzung mit dem Programm und den Empfang weiterer Servicedienste wie Musikbox, Individual-CD-Erstellung und Musikträgerverkauf verstehen möchte, ergeben sich für die Veranstalter tragfähige Geschäftsmodelle.

Auch die Empfangsmöglichkeit von Internetradio ohne PC könnte eine wichtige Rahmenbedingung sein, dem Netzradio eine festere Marktverankerung zu geben. Passende technische Modelle hierfür sind in greifbarer Nähe.

Das Internetradio kommt und es wird vielleicht die Begriffsbedeutung Radio neu definieren. Es ist aber eine Frage der Zeit und der Nutzungsgewohnheiten. Heute ist es kaum mehr, als ein - zugegebenermaßen spannendes - Radioexperimentierfeld.

Bitcasting als Hörfunk

MP3, das Zauberwort für komprimierte, digitale Musikdateien, hat seine Wurzeln in den MPEG-Algorithmen, denen das psychoakustische Modell des unhörbaren Weglassens von Toninformationen zu Grunde liegt. Somit ist MP3 nichts anderes als ein Kompressionsformat, wie es bei allen digitalen Sendeformaten zur Anwendung kommt. Tatsächlich liegt MP3, ein Algorhithmus des deutschen Fraunhofer-Insituts in Erlangen, außerhalb der MPEG-Norm und wird deshalb als MPEG 2.5 bezeichnet, die es genau genommen gar nicht gibt. Dem weltweiten Erfolg des Formats tat dieser Umstand keinen Abbruch.

Im Bereich des Webradio-Streamings spielt MP3 als Audioformat eine eher untergeordnete Rolle. Der Wunsch, Musikprogramme per MP3 abzustrahlen und auf der eigenen Festplatte zu speichern, ist aber natürlich da. Die Internet-Musiktauschbörse Napster ermöglichte in ihren besten Tagen fast 63 Millionen Benutzern weltweit den Austausch von Musikstücken im MP3-Format und begründete einen neuen Endgerätemarkt von MP3-Playern und MP3-fähigen CD-Spielern für daheim und unterwegs.

Als alternative Form des Webradios und Netz-Filesharings à la Napster, zeigte die Münchner Firma MusicPlay mit ihrem Sender RadioMP3 eine neue Form des Bitcasting.
Verwendet wurde hierbei die so genannte vertikale Austastlücke des Fernsehprogramms NBC-Giga. Normalerweise wird diese Austastlücke dazu verwendet, Videotext auszustrahlen. Da NBC Europe keinen Videotext anbietet, stand die Austastlücke für ein Bitcasting zur Verfügung.

In der Austastlücke wurde nun ein Musikkanal betrieben, der MP3-Audiodaten und internettypische HTML-Seiten mit programmbegleitenden Inhalten übertrug.
Empfangen ließ sich das Programm kostenlos über den TV-Kabelanschluss. Mit einem PC und einer einfachen Fernsehtunerkarte konnte die Empfangssoftware MP3-Daten abfiltern. Fortan stand ein Musikprogramm in CD-naher Klangqualität auf dem PC zur Verfügung. Eine Internetverbindung wurde nicht benötigt.

Die Software verfügte auch über eine Aufnahmefunktion. Die Musikstücke konnten so per Knopfdruck einfach auf die Festplatte übertragen werden.

RadioMP3 besaß eine Rundfunklizenz und durfte somit Musik ausstrahlen. Und der Hörer konnte Musik aus dem Radioprogramm in einer Klangqualität aufnehmen, die seinerzeit wohl konkurrenzlos war.

Das Experiment RadioMP3 scheiterte an dem Versuch, sich aus Werbeeinnahmen finanzieren zu wollen. Eine gute Idee allein garantiert heute offensichtlich nicht automatisch Erfolg. Bewiesen ist mit diesem Bitcasting, dass Techniken des Internets sich auch auf anderen technischen Plattformen ansiedeln können. Die Technik des „Webradios” wird uns auch ohne „Web” noch oft begegnen.